Durch die Alservorstadt

Leichtes Leben rund um den Narrenturm (9. Bezirk Alsergrund)

Wer am Alser Spitz aus dem 13er Bus oder aus der Bim steigt und in Richtung Innere Stadt blickt, dem präsentieren sich die drei Ankerpunkte des heutigen Stadtspaziergangs auf einen Blick. Zur Rechten, in einer Flucht mit der Bebauung der Alser Straße, die Dreifaltigkeitskirche, ihr gegenüber das Gelände des Alten AKH und im Hintergrund – trotz Baugerüst imposant – die Votivkirche. 

So harmonisch der Anblick ist - die drei Baukomplexe könnten in ihrer Bedeutung und Weltanschauung nicht unterschiedlicher sein und stehen damit sinnbildlich für den Clash der sozialen Schichten und Kulturen, der bis heute den Charakter der Alservorstadt prägt: Bürgertum, Forschung und Lehre und Repräsentation treffen hier hart aufeinander, ohne auch nur den Versuch einer Synthese zu unternehmen.

Für den bürgerlichen Teil stehen die Alserkirche und das daran anschließende Minoritenkloster. Als Gebäude bestenfalls barocker Wiener Durchschnitt, in Ausstattung und Erhaltungszustand ausbaufähig, spürt man doch deutlich, dass hier das Herz des Grätzls schlägt. Kulturhistorisch hat der Bau wenig zu bieten – dass Beethovens Leichnam hier eingesegnet wurde, ist der zweifelhafte historische Höhepunkt und dass Schubert den Hymnus „Glaube, Hoffnung und Liebe“ zur Glockenweihe schrieb bestenfalls eine musikgeschichtliche Randnotiz – aber diese Kirche hat etwas, was den beiden anderen Sehenswürdigkeiten abgeht: Sie wird geliebt.

Dies zeigen insbesondere der Kreuzgang und die Antoniuskapelle des Klosters, die man von der Kirche durch eine Tür rechts leicht erreicht. Mehr als 4000 Votivtafeln bedecken die Wände, auf denen die Menschen der Umgebung um Hilfe in der Not bitten oder für erwiesene Gnade danken. Man mag von diesen eins-zu-.eins Marmortafeln („Bekomme ich etwas von Dir, bekommst Du etwas von mir“) halten, was man will: Dies ist gelebter Glaube.

Von ganz anderem Geist geprägt war und ist der auf der gegenüberliegenden Straßenseite beginnende Komplex des Alten Allgemeinen Krankenhauses Wien (AKH), oder, wie es heute heißt, der Campus der Universität Wien. 

Aufbauend auf dem 1693 durch Kaiser Leopold I gegründeten Großarmen- und Invalidenhaus,  erlebte der Komplex seine große Zeit in den Jahren nach 1784, im Zeitalter der Aufklärung.  Nach dem Vorbild des Pariser Hôtel-Dieu wurde auf Veranlassung Joseph II hier Wiens nach modernen Maßstäben erstes „echtes“ öffentliches Krankenhaus gebaut. Auch wenn der Bau wie eine Kaserne wirkt: Das AKH war von vorneherein als Ort der Heilung, aber auch der Forschung und der Lehre konzipiert und hat wesentliche Impulse für die Entwicklung der Medizin gegeben. Namen wie Ignaz Semmelweis (der „Erfinder“ der Hygiene im Krankenhaus), Theodor Billroth (einer der führenden Chirurgen seiner Zeit ) und Karl Landsteiner (Nobelpreis für Physiologie oder Medizin, der das AB0-Blutgruppensystem entdeckte) trugen den Ruf der Wiener medizinischen Schule in alle Welt.

Eine eher skurrile Manifestation dieses Interesses an der Wissenschaft verbirgt sich im – von der Alser Straße aus gesehen – hintersten Teil des Komplexes: der in Wien hinlänglich bekannte „Narrenturm“. Er diente zu Josephs Zeiten der Unterbringung psychische Kranker. Als einziges rundes Gebäude auf dem sonst militärisch-rechtwinklig durchgeplanten Areal regt seine Form bis heute zu Spekulationen an. Beginnend bei der durchaus nachvollziehbaren Überlegung, ob mit dem Fehlen des rechten Winkels versucht werden sollte, den verwirrten Gemütern der Insassen „eine andere Richtung“ zu geben, bis hin zum Gerücht, dass der Kaiser in einem auf dem Dach angebrachten Alchemistenstüberl versucht haben soll, die Lebensenergie der Kranken für seine Zwecke zu kanalisieren, gibt es jede Menge Deutungsansätze für die auffällige Form des „Gugelhupfs“.

Auch, wenn die Zeiten als psychiatrisches Lazarett längst Vergangenheit ist, ein wenig schaurig ist der Narrenturm auch heute noch. In ihm befindet sich jetzt das Pathologisch-anatomische Bundesmuseum, das Präparate und Modelle von so ziemlich alle medizinischen Krankheiten ausstellt, die man lieber nicht sehen, geschweige denn haben, will. 

Deutlich lebensfroher präsentiert sich da der Arne-Karlsson-Park hinter dem Gelände des Alten AKH in Richtung Währinger Straße. Dass man, um das quirlige Grün zu erreichen, die Sensengasse queren muss, hat einen gewissen symbolischen Witz ...

Wer Arne Karlsson war (ein schwedischer Helfer in der Nachkriegszeit), ist mir zugegebener Maßen nicht bekannt. Ebensowenig, wer die Dame auf dem Denkmal im Park ist. Google hilft auch hier: Elsa Brändström setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg für österreichische und deutsche Kriegsgefangene in Sibirien ein. Die Inschrift auf dem Sockel des Denkmal berichtet im wahrsten Sinne des Wortes nur fragmentarisch davon – der Bezirk sollte einmal in eine Handvoll Bronzelettern investieren.

Hinter dem Park führt der Weg rechter Hand die Währinger Straße hinunter in Richtung Votivkirche. Vorbei am protzigen Josephinum, das das Institut für Geschichte der Medizin beherbergt, sollte man einen Blick hinter die Türen des Hauses Währinger Straße 22 nicht versäumen: Hinter der unscheinbaren Fassade wirkt das prächtige Foyer eines ehemaligen Palais wie der Theaterprospekt einer vergangenen Zeit.

Mehr Kulisse als zweckgerichteter Bau ist auch der Schlusspunkt dieses Rundgangs: die schon zur Ringstraße ausgerichtete Votivkirche. Heinrich Ferstels neugotischer Bau verhält sich zu einer echten gotischen Kirche in etwa wie Ernst Marischkas Sissi-Filme zur echten Kaiserin Elisabeth: Alles ist da, aber nichts stimmt. Das Gebäude ist ein reiner Huldigungsbau an die Habsburger-Dynastie, ein Ort des Gebetes ist es nicht – es gibt keinen Raum für Innigkeit, für den stillen Dialog mit dem Göttlichen. Alles ist öffentlicher Raum, jeder Quadratmeter ist von überall gut einsehbar. Da passt es, dass alle Wände voll sind mit Gedenkstätten vornehmlich militärischer Provenienz. Das ganze eine einzige Kranz-Abwurfstelle.

Letzten Endes funktioniert die Votivkirche wie Ferstls Café Central: Sie ist ein Ort, um zu sehen und gesehen zu werden. Eine Volkskirche wie die Kirche in der Alservorstadt wollte und will dieser seelenlose Koloss nicht sein – und wird es wohl auch niemals werden.

Das neu eingerichtet Museum verstärkt diesen Eindruck: Die Sakralgegenstände, geschaffen zur Eröffnung des Baus, wirken in erster Linie neureich. Zwei Meisterwerke allerdings lohnen den Besuch – und die 8 Euro Eintritt! – und geben dem Besuch ein versöhnliches Ende. Zum einen das einzige authentisch mittelalterliche Stück der Sammlung, der farbenprächtige und bewegte Antwerpener Altar von 1460. Und zum zweiten ein anrührender Christuskopf aus dem späten 19ten Jahrhundert. Es spricht Bände über diese Kirche, dass man just bei diesem Werk, bei dem der Bildhauer sich hinter dem künstlerischen Ausdruck zurücknimmt, nicht sicher ist, vom wem es stammt. 

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Meine Tipps:

- Wer gute Nerven hat, kann die Ausstellung im Narrenturm besichtigen. Informationen und Anmeldung unter https://www.nhm-wien.ac.at/forschung/anthropologie/pathologisch-anatomische_sammlung_im_narrenturm

- Das Museum der Votivkirche ist zum Beginn des rechten Chorumgangs durch eine Tür und über eine Wendeltreppe zu erreichen: https://www.votivkirche.at/_museum.htm

- Das Café Namenlos befindet sich in den Räumlichkeiten des ersten Kaffeehauses der Wiener Josefstadt, dem „Zum weißen Schwan“ von 1720. Mehr Tradition in Sachen Kaffee geht kaum (https://cafenamenlos.com)

© Hartmut Schulz 2023

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