Die Ruferin auf dem Dach

Jugenstilbauten in Mariahilf (6. Bezirk Mariahilf)

Heute wäre es wohl unvorstellbar, aber als von 1903 bis 1915 der Wienfluss zwischen Pilgrambrücke und Stadtpark in den Untergrund verbannt wurde, galt dies als städtebauliche Großtat. Die Flussregulierung der Vorjahre hatte den anliegenden Bezirken bereits Sicherheit vor den gelegentlichen, in ihren Auswirkungen aber dramatischen Hochwassern des Flüsschens gegeben, nun waren auch wertvoller Baugrund und eine großzügig verwertbare Verkehrsfläche vorhanden. Endlich konnten die rasch wachsenden Vorstädte ans Zentrum angebunden werden, ein nicht zu vernachlässigendes Bedürfnis einer Stadt, die zwischen 1870 und 1910 – also innerhalb nur einer Generation – die Zahl ihrer Einwohner von 1 auf 2 Millionen verdoppelt hatte. 

Der Beginn des 20ten Jahrhunderts war eine fortschrittsgläubige Zeit. Die Industrialisierung hatte der etwas verschlafenen Residenzstadt einen wirtschaftlichen Aufschwung beschert, die starke Zuwanderung, besonders aus Tschechien, verwandelte Wien in einen kulturellen Schmelztiegel. 

Entsprechend rasant veränderte sich das Stadtbild.

Bis zum Ende des 19ten Jahrhunderts war die Ringstraße entstanden, das neue Jahrhundert brachte ein geschlossenes Stadtbahnnetz. Und nun sollten die lästigen kleineren Flüsse – so die damalige Empfindung - endlich aus dem Stadtbild verschwinden. 

Treibende Kraft der Flusseinwölbung der Wien war der Architekt und Stadtplaner Otto Wagner, jener janusköpfige Gestalter, der Wien wichtige, das Stadtbild bis heute prägende Projekte bescherte, dabei aber auch rücksichtslos alles aus dem Weg räumte, was seinen Visionen im Wege stand. Egal, ob Barockschloss, Massenquartier oder Gewässer. Auch die Donau kann ein Lied davon singen.

Für das zugedeckelte Flüsschen schwebte ihm etwas ganz Besonderes vor: Ein Prachtboulevard zwischen Karlsplatz und Schloss Schönbrunn, vergleichbar den Champs Elysées in Paris oder der Straße unter den Linden in Berlin.

Auch wenn das Projekt nie zur Gänze realisiert wurde, so hat der daraus resultierende Bauboom den angrenzenden Bezirken, namentlich Mariahilf, eine ganze Reihe sehenswerter Bauwerke beschert. Zu einigen von ihnen, Meisterwerken des Wiener Jugendstils (inkl. verwandter Stile wie Sezession-Stil oder Heimat-Stil) führt dieser Stadtspaziergang.

Beginnen soll er direkt auf bzw. über dem zubetonierten Fluss, am Naschmarkt, dem für die städtische Infrastruktur wohl wichtigsten Ergebnis des gigantischen Unternehmens.

An einem frühen Sonntagmorgen wie dem, an dem die Fotos dieses Beitrags entstanden, liegt der Markt im Dornröschenschlaf. Eine gute Gelegenheit, einmal nicht die bunten Auslagen aus aller Welt zu bestaunen, sondern den Blick auf das bauliche Ensemble zu werfen.

Ab 1902 entstanden an Stelle der bis dahin fliegenden Marktstände die bis heute erhaltenen dunkelgrünen Standzeilen. Sie verraten schon den Stil der neuen Zeit, der sich dann im Marktamt von Friedrich Jäckel aus dem Jahr 1916 in voller Ausprägung zeigt.

Die eigentlichen Meisterwerke des Jugendstils finden sich aber vis-a-vis: die drei Wienzeilenhäuser vom Meister, Otto Wagner, höchstselbst. Was der Architekt hier in den Jahren 1898/ 99 baute, gehört auch international zu den bedeutendsten Gebäuden dieser Epoche. 

Das sogenannte Majolikahaus, Linke Wienzeile 40, besticht mit seinen bunten floralen Fliesenornamenten. Der ungewöhnliche Entwurf war zu Zeiten seines Erbauers umstritten, Wagner musste die Kosten für das extravagante Design selbst übernehmen. Heute ist die Fassade Kult.

Nur auf den ersten Blick zurückhaltender gibt sich die Hausnummer 38 mit den goldenen Ornamenten von Koloman Moser. Ein Blick in die Höhe offenbart Seltsames: Von dort tönt der lautlose Schrei der „Ruferinnen“ über den nahen Markt.

Allein für den Anblick dieser beiden Häuser lohnt es sich, früh aufzustehen. Wenn die erste Morgensonne von der Wiedener Seite die Fassaden zum Strahlen bringt, bietet sich ein atemberaubender Anblick.

Weniger auffällig ist das dritte Wienzeilenhaus in der Köstlergasse 3. Diese Schlichtheit ist pures Understatement: Hier wohnte Otto Wagner selbst.

Einen kurzen Bogen zurück auf die Linke Wienzeile ist auch das Eckhaus Nr. 48–52, die Versicherungsanstalt für Eisenbahnen und Bergbau 1912/ 13 von Hubert Gessner mit ihrem vom Jugendstil beeinflussten Skulpturenschmuck von Anton Hanak, wert.

Von hier aus geht es durch die Straßen des Grätzels zur Fillgraderstiege, die die gleichnamige Straße mit der höher gelegenen Theobaldgasse verbindet. Die Stiege wurde zwischen 1905 und 1907 gebaut und ist architektonisch die kleine Schwester der Strudlhofstiege im 9. Bezirk.

Von der Theobaldgasse geht es in die Windmühlgasse und diese ganz hinunter bis zum Zusammentreff mit der Gumpendorfer Straße und der Schadekgasse. Auch beim Haus Windmühlgasse 32 lohnt der Blick in die Höhe, wo die sezessionistische Fassade von einem eleganten Fries und Bogen bekrönt wird.

Der Weg zur nächsten Station dieses Stadtspaziergangs, zum Werkstätten-Komplex des Mollardhofs, führt quer durch Mariahilf. Man sollte die Augen offenhalten, vom Jugendstil beeinflusster Fassadenschmuck begegnet einem allerorten, und von Margareten herüber grüßt der Rüdigerhof mit seinem kultigen Café.

Am Mollardhof selbst lässt sich erkennen, dass die Möglichkeiten der „Neuen Bauens“ sich nicht nur auf den Wohnungsbau beschränkten. Das Gebäude vereint Funktionalität und Eleganz auf einzigartige Weise. Bei seiner Einweihung im Jahr 1909 trug es übrigens den Namen „Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumswerkstätten“. Dem stock-konservativen Namensgeber hat der Bau vermutlich nicht gefallen.

Versöhnt hätte ihn wohlmöglich die letzte Sehenswürdigkeit des heutigen Weges, die Hauptfeuerwache Mariahilf von 1914. Das Gebäude sieht aus, als wäre es aus einer Miniatureisenbahn-Anlage herausvergrößert worden. „Heimatstil“ nennt sich diese Gute-alte-Zeit-Architektur, der man aber durchaus Charme zugestehen muss.

Den endgültigen Schlusspunkt setzt dann wieder der notorische Otto Wagner: Seine U-Bahn-Brücke schließt auch optisch Mariahilf gegen das dahinterliegende Rudolfsheim-Fünfhaus ab. 

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Meine Tipps:

- Wie gesagt: Bei schönem Wetter früh aufstehen und die Wienzeilenhäuser im Morgenlicht bestaunen. Oder das Kontrast-Programm: Einen genussreich-geruhsamen Abend in einem der Gastronomiebetriebe auf dem vorderen Teil des Naschmarkts.

-  Wer das Panorama der Wienzeile lieber aus der Wärme eines Cafés betrachten will, wechselt am besten auf die gegenüberliegende Wienseite ins Café Rüdigerhof (https://ruedigerhof.stadtausstellung.at)

 

© Hartmut Schulz 2023

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