Bei den sieben Hirten

Ein überraschend grüner Spaziergang durch einen Wohn-Vorort (23. Bezirk Liesing)

„Der Süden von Siebenhirten wird zur chronostratigraphischen Stufe des Pannoniums gezählt, der Norden zum Holozän.“ (Wikipedia)

Wenn einen dieser Satz nicht nach Siebenhirten treibt – was dann?

Nicht viel, zumindest unter touristischen Gesichtspunkten. 

Aufgrund der hier angesiedelten Industrie im Zweiten Weltkrieg weitestgehend zerstört, gibt es wenig – ehrlich gesagt: keinen – historischen Baubestand, den es zu bewundern gälte. Was die alliierten Bomben an alten Gebäuden verschonten, fiel und fällt nach und nach der Bauspekulation zum Opfer. Dazu kommen ein zugebauter See, der für die meisten Einwohner der Gemeinde keinen Erholungswert hat und die Südautobahn als Ortsbegrenzung.

Dass das Beste an Siebenhirten trotzdem nicht die U6 in Richtung Innerer Stadt ist, sondern dass sich, einmal hier, eine große Runde durch Gebiet durchaus lohnt, liegt an zwei, nun, nennen wir es: Sehenswürdigkeiten, der Wohnanlage „Wiener Flur“ im Norden und dem Erholungsgebiet Kellerberg im Süden.

Für alle, die an der U-Bahnendhaltestelle Siebenhirten aus der Bahn steigen, ist die „Wiener Flur“ nicht zu übersehen, die Wohnblöcke liegen den Gleisen gleich vis-a-vis. (Meinen Fehler, bereits an der Station Perfektastraße auszusteigen, kann ich nur Menschen mit einem ausgeprägten Fetisch für verkehrsgünstig gelegene Gewerbegebiete zur Nachahmung empfehlen) Natürlich war ich vorbereitet: 824 Wohneinheiten, größter Gemeindebau im 23. Bezirk, sechs- bis achtgeschossigen Wohngebäude. Die Baujahre 1978-80 und die Schlagworte „Plattenbau“ und „Postmoderne“ dämpften meine Erwartungshaltung zusätzlich. Die Achtziger haben wenig attraktive Architektur hervorgebracht, bei „Platte“ assoziiere ich unwillkürlich die meist schon bei Fertigstellung marode Tristesse in den Staaten des ehemaligen Ostblocks. Und die Postmoderne ist jene Epoche, der Wien unter anderem das vulgäre Haas-Haus am Stephansplatz verdankt.

Ich erwartete also Schlimmes – und wurde angenehm überrascht.

An dieser Stelle eine persönliche Anmerkung: Ich mag Bauhaus, ich mag Art Deco, ich mag klare Linien, glatte Fronten und reduzierte Farbigkeit. Mir gefällt die „Wiener Flur“. Jemand, der den Barock liebt, wird mit dieser Anlage vermutlich niemals glücklich. Ich schon.

Zumal – und das ist eine Besonderheit dieser Stadt, die ich aus meiner Heimat Deutschland nicht kenne – zumal Gemeindebauten in Wien meist gut in Schuss sind. So auch hier. Die Häuser machen allesamt einen gepflegten Eindruck, kein Müll liegt herum, das Grün um die Anlage ist liebevoll betreut. Was auffällt, ist das Fehlen von Graffiti, wie man sie am gegenüberliegenden Bahndamm in großer Menge „bewundern“ kann. Augenscheinlich hat noch kein Ästhetik-resistenter Sozialarbeiter die Wände der Häuser als Leinwand für die sprühende Grätzel-Jugend zur Verfügung gestellt bekommen. Hoffen wir, dass es so bleibt, die wenigsten von ihnen sind Banksys, meist reicht es nicht einmal zum Kyselak.

Um von hier zur zweiten Attraktion zu gelangen, geht es auf grader Strecke durch Siebenhirten. Was auffällt: Ein wirkliches Zentrum gibt es nicht, hat es nie gegeben. Vor der Kriegszerstörung war es ein kleines Straßendorf, eine Kirche, ein paar Häuser entlang des Wegs. Man brauchte keinen Ortskern, man war der Ortskern.

Erhalten ist davon, wie gesagt, wenig. Selbst die Kirche stammt aus der Nachkriegszeit.

Vorbei am Friedhof und über den hier fließenden Petersbach erreicht man das Erholungsgebiet um den 233 Meter hohen Kellerberg, eine ausgedehnte Grünzone, die zu Beginn der 2000er Jahre aus einer gemeinsamen Anstrengung der Stadt und der anwohnenden Bürger entstand. Der zum Südende hin ansteigende Hügel schließt Siebenhirten optisch gegen die A21 ab, was dem Ortsbild sichtlich guttut. Man mag sich kaum vorstellen, wie es hier aussähe, wäre das in 80er Jahren geplante Einkaufszentrum – ein Koloss analog zur nahegelegenen Shopping City Süd – gebaut worden. Eine Bürgerinitiative hat dies verhindert. 

Und so herrscht hier heute Idylle. Ein paar Anwohner führen am frühen Morgen, an dem ich hier bin, ihre Hunde aus. Ein paar der obligatorischen Jogger begegnen mir. Ansonsten stört nur das beständige Rauschen der im Tal liegenden Autobahn den friedlichen Gesamteindruck. Über die ausgedehnte Wiese hinweg sieht man die Hochhäuser von Alterlaa und von Wienerberg, all das ist weit weg. Eigentlich fehlen nur noch die namensgebenden sieben Hirten mit ihren Herden, um das Bild abzurunden. Aber wer weiß…

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Meine Tipps:

- Das Erholungsgebiet Kellerberg eignet sich vorzüglich für ein Picknick im Grünen. Ideal dafür ist der auf der Wiese stehende Pavillon „Helicopter“ des Künstlers Oliver Roman, der auch die Skulptur „going outa space“ auf der Spitze des Kellerbergs schuf.

- Wer sich für die Ortsgeschichte interessiert und alte Bilder aus dem Siebenhirten der Vorkriegszeit betrachten möchte, wird auf der Internetseite www.7hirten.wien fündig.

 

© Hartmut Schulz 2023

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