Das schönste Mädchen von Wien

Vom Kahlenberg nach Heiligenstadt (19. Bezirk Döbling)

Es ist der März des Jahres 1815. Ungläubig lauscht die in  Wien zum Kongress versammelte Welt den Nachrichten aus Paris. Napoleon, die Geißel des Kontinents, das Monster, der Emporkömmling, ist von seinem Exil auf Elba aufgebrochen und an der Spitze eines Heeres in Frankreich gelandet.

Während die in der Stadt versammelten Herrscher, Exzellenzen, Gesandten und Diplomaten im ewigen Tanz innehalten und gebannt auf die neuesten Depeschen warten, verlischt in der Kärntner Straße 5 das Licht eines der funkelndsten Sterne der Ballsäle. Karoline Traunwieser, nach allgemeiner Meinung der Zeit „das schönste Mädchen von Wien“, stirbt mit nur 21 Jahren an der Schwindsucht.

Ihre Grabstätte liegt auf dem kleinen Kahlenberger Friedhof.

Wer sie besuchen will – und das wollen, über 200 Jahre nach ihrem Tod, noch erstaunlich viele, wie die Kerzen, Schleifen und Engelsfiguren auf ihrem Grab belegen – der fährt am besten mit dem Bus hinauf auf Wiens Schicksalsberg und läuft dann, die Neubauten der Modul University Vienna linker Hand liegenlassend, die von hier ins Tal abfallende Kahlenberger Straße hinunter. 

Hinter einer Spitzkehre, in deren Zwickel einige Bienenstöcke die frische Wienerwald-Luft atmen dürfen, führt der Weg durch ein schmiedeeisernes Tor in den geweihten Bezirk. Korrekterweise ist dies übrigens der Josefsdorfer Friedhof. Aber dass die Siedlung am Hang unterhalb der Wallfahrtskirche auf ebendiesen Namen – Josefsdorf – hört, ist kaum einem Wiener bewusst. Zu übermächtig ist der Name Kahlenberg, als dass ein antiklerikaler Kaiser und das Wiener Grundbuch einen anderen Namen als eben diesen: Kahlenberg, hätten durchsetzen können.

Bleiben wir also beim Kahlenberger Friedhof.

Er beherbergt kaum zwei Handvoll Grabstätten, neben dem der Karoline Traunwieser noch am bekanntesten noch das des Charles Joseph de Ligne, der wenige Monate vor ihr, im Dezember 1814 auf seinem nahegelegenen Landsitz verstorben war. Der hoch angesehene – und im Gegensatz zu Karoline auch hoch betagte – Diplomat war bekanntermaßen ein glühender Verehrer des schönen Mädchens. Was seine neben ihm bestattete Frau von seiner Schwärmerei hielt, ist nicht überliefert…

Im strahlenden Winterwetter des letzten Tages des Jahres liegt eine friedvolle Ruhe über der ganzen Anlage. Und – auch wenn die hier Bestatteten vermutlich nichts mehr davon haben – der Blick über die Weinberge, die gleich auf der anderen Straßenseite beginnen, könnte schöner nicht sein.

Wer will – und ich will bei diesem herrlichen Sonnenschein nach den trüben letzten Wochen ganz sicher – folgt vom Friedhof aus weiter der Kahlenberger Straße. Vorbei an etlichen Heurigen und mit wechselndem Blick aus Kalhlenberg und/ oder Leopolsdberg führt der Weg im weiten, bequem zu laufenden Bogen weiter hinunter ins Tal. 

Mitten im Wald muss man sich dann entscheiden: die Teertrasse hinunter in Richtung Nussdorf oder über den Schreiberbach auf einem Feldweg in Richtung Grinzing. 

Ich entscheide mich für Grinzing und werde, nach einigen beschwerlichen Metern durch den nach etlichen Tagen Regen knöcheltiefen Wienerwälder Schlamm, mit einem atemberaubenden Ausblick auf das langsam näherkommende Wien belohnt.

Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung zurück in die Zivilisation – der Weg mündet am Krapfenwaldbad auf den Unteren Schreiberweg. Jetzt, Ende Dezember, ist die Anlage selbstverständlich geschlossen, aber während der Saison ist das Jahrhundertwende-Bad mit seinem inmitten turmhoher Föhren gelegenen Außenbereich eines der schönsten Bäder Wiens. Schon der Blick hinüber auf Kahlenberg und Leopoldsberg macht einen Besuch zum einzigartigen Erlebnis – ich werde im Sommer wiederkommen!

Für den Moment geht es hinunter in Richtung Heiligenstadt. Am Grinzinger Steig führt ein schmaler Weg zurück über den Schreiberbach auf den Heiligenstädter Friedhof. Allein, so schön er sein mag, er kann mit dem Kahlenberger Pendant nicht konkurrieren – Ödön von Horváth, von mir als Dramatiker verehrt und hier bestattet, möge es mir verzeihen.

Spannender ist da schon ein kleiner Weinanbau direkt am Steig. Eine große Tafel fordert dazu auf „Grinzinger Freund“ zu werden, darunter prangen Bilder von Prominenten aus aller Welt, von denen etliche vermutlich nie in Grinzing waren, denen aber ein Rebstock auf diesem sonnigen Hang mit weitem Blick in Tal gewidmet ist. Im Sommer hat dies sicher seinen romantischen Reiz, jetzt allerdings sind die Rebstöcke kahl und wirken mit ihren Namensplaketten einigermaßen beunruhigend, zumal die meisten der hier als Freunde des Weinbaudorfes Verewigten bereits nicht mehr unter uns weilen. 

Der Prominente, der jetzt am nahen Ziel der Wanderung auf mich wartet (wenn auch nur in Bronze), hätten den leicht morbiden Reiz der Anlage vermutlich zu schätzen gewusst: mitten in dem zu seinen Ehren benannten Park prangt die Büste des Jahresjubilars 2020, Ludwig van Beethoven. Im nahen Haus Probusgasse 6 schrieb der allmählich taub werdende Komponist im Jahr 1802 das bewegende Heiligenstädter Testament. So misanthrop das Dokument daherkommt, ganz ernst war es dem Musikgenie mit dem Schriftstück nicht – er überlebte es um ein ganzes viertel Jahrhundert.

Die Beethoven-Büste scheint mir als Endziel einer Wanderung am letzten Tag seines Jubiläumsjahres indes mehr als passend. Vom hohen Sockel starrt der Schöpfer der 5. Symphonie, des Fidelio, der „Freude schöner Götterfunken“-Apotheose mit finster-entschlossener Miene irgendwo ins Nirgendwo. Seine schwierige Zeit hat er leidlich überstanden, aber er blickt nicht zurück. Die Zukunft wird Besseres bringen…

In diesem Sinne: alles Gute für das neue, und sicher bessere Neues Jahr!

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Meine Tipps:

- Wer im Herbst de Weg läuft, sollte die Weingärten entlang der Strecke aufsuchen. Eine Übersicht findet sich unter https://www.stadtlandwirtschaft.wien/BuschenschankimWeingarten

- Ebenfalls für den Sommer vormerken: das Krapfenwaldbad https://www.wien.gv.at/.../sommerbaeder/krapfenwaldlbad.html

- Beethovens Heiligenstädter Testament in Abbildung und Umschrift ist zu finden unter https://de.wikisource.org/wiki/Heiligenst%C3%A4dter_Testament

© Hartmut Schulz 2023

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