Was ist authentisch?

Grinzing und die Frage, wo die Vergangenheit endet (19. Bezirk Döbling)

Es gibt Gründe, warum ich innerhalb der fünf Jahre, die ich inzwischen in Wien wohne, und im Rahmen von dutzenden Stadtspaziergängen, immer einen Bogen um das Dörfchen Grinzing gemacht habe. Zum einen steht mir der Sinn selten nach weinseliger Druckbetankung, und wenn ich einmal Lust auf ein Achtel Veltliner habe, liegen zwischen meiner Margaretener Wohnung und diesem ach-so-beliebten Weinort genügen Wirtshäuser und Buschenschanken, um nicht quer durch die Stadt in den äußersten Norden fahren zu müssen. Zum zweiten stimmt mich die omnipräsente Touristenwerbung a la „Vienna in a day: City Center, Schoenbrunn and Grinzing“ eher skeptisch. Zum Dritten – und dies für mich hauptsächlich – verbinde ich Grinzing mit jenen pudrigen Filmen der 60er Jahre, gefühlt immer mit Peter Alexander, die ich für einen, nein: für den absoluten Tiefpunkt deutschsprachiger Kultur halte.

Aber am heutigen Sonntag brennt bereits am frühen Morgen die Sonne vom Himmel, und da ich in der Nähe etwas zu erledigen habe, beschließe ich, es einmal mit Grinzing zu versuchen. Die Gefahr, um diese Uhrzeit schon in eine Gruppe volltrunkener Viking-Cruise-Opfer oder in Ferdi, den humorigen Elvis-Imitator mit echtem Wiener Schmäh hineinzulaufen, ist gering. Und wer weiß, vielleicht hat das Örtchen ja noch eine zweite, eine authentische Seite?

Die Chancen dafür stehen allerdings schlecht, wie ein kurzes Überfliegen der Dorfhistorie nahelegt. Es ist das übliche Elend der kleineren Gemeinden im Wiener Umland: Irgendwann im Mittelalter gegründet, wurde es wieder und wieder niedergebrannt, von Mathias Corvinus und gleich zwei Mal von den Osmanen. Und wer überlebt hatte, den erledigte die Pest.

Als Grinzing 1882 zu Wien kam, hatte es kaum 1.500 Einwohner - Landarbeiter, Weinhauer, Taglöhner. Armes Volk halt. Der ganze Ort lag an zwei Straßen, der Himmelstraße und die Cobenzlgasse. Hier drängten sich gut 200 Häuser um das spätgotische Kirchlein, für ein Schloss oder auch nur einen wirklich repräsentativen Herrenhof hattes es nicht gereicht. Und dennoch muss dieses in eine Mulde des auslaufenden Wienerwaldes geduckte Dorf einen ganz eigenen Zauber gehabt haben.

Das romantisch-gefühlige 19. Jahrhundert empfand dies so, und mit Beethoven und Schubert begann die lange musikalische Tradition Grinzings (nur um dann mit Benatzkys „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist“ wieder im musikalischen Abgrund zu versinken). Als die Gemeinde seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts dank zunehmender Motorisierung und dem Ausbau des Wiener Nahverkehrs näher an die Stadt heranrückte, wurde Grinzing nicht nur beliebtes Ausflugsziel, sondern sommerfrischer Wohnort für die Besserbetuchten – und damit begann eine absurde bauliche Entwicklung (die ich in der Fotostrecke gflissentlich ignoriere), die bis heute anhält.

All die Böhms, Hörbigers, Wesselys und was sich sonst noch an Prominenz hier einfand, sahen sich vor ein Dilemma gestellt. Selbstverständlich war man hier herausgezogen, weil alles so klein, ländlich, idyllisch und „liab“ anzuschauen war. Nur: Selbst so wohnen wollte man natürlich nicht, schließlich war man wer, und das galt es zu zeigen.

Wohin die Reise ging (und geht) zeigt das Mietshaus Himmelstraße 41-43 von 1914, in dem neben Karl und Karlheinz Böhm auch der Mathematiker Kurt Gödel lebte. Ein Herr Prof. Dr. natürlich – für normale Menschen, allem voran für seine ursprünglichen Einwohner, war Grinzing längst zu teuer geworden. Gegen das Haus ist architektonisch wenig einzuwenden, und es hätte auf der Ringstraße sicher gute Figur gemacht. Neben der kleinen Biedermeierhäusern in seiner Umgebung hingegen wirkt es einfach nur unproportioniert und unangenehm neureich.

Aber es setzte den Trend. Das Häuserl der Schauspieler-Dynastie Hörbiger hat bescheidene 480 qm Wohnfläche nebst 5.000 qm Garten und ist keineswegs das größte im Umkreis. Und nachdem Grinzing in den 60er Jahre dank Film, Funk und Fernsehen berühmt geworden war, entstanden etwa im auf der anderen Seite des Tales gelegenen Schreiberweg Villen, die in erster Linie eines sind: groß. Schön sind sie selten.

Und dennoch regt die Anthologie architektonischer Albträume zum Nachdenken an: Ist das hier nicht inzwischen das „eigentliche“ Grinzing, viel mehr als die wenigen aufgerüschten und aufgehübschten alten Bauten unten im Tal? Wenn man ehrlich ist, ja. Denn hier leben die Menschen. Hinter all den Schutzplanen und meterhohen Hecken findet Alltag statt. Ein sehr gehobener Alltag, mit Gärtner, Wachmann und bissigem Hund. Auch reiche Leute müssen irgendwo wohnen. Und wem die gepflegte Tristesse hier gefällt, bitte sehr.

Das Dorf unten hat sich seinen neuen Bewohnern längst angepasst. In den kleinen Häusern finden sich mit Schmucklädchen, Nagelstudios und ganzheitlich ausgerichteten Kosmetiksalon alles, was die gelangweilte Botschaftergattin braucht. Für den Nachwuchs gibt es die – selbstverständlich zweisprachige – Privatschule. Und der Gatte arbeitet im diplomatischen Dienst, in einem der vielen Immobilienunternehmen, in einer Vermögensverwaltung oder als Beauty Doc. Das Ganze ein einziges Desperate Housewives.

Mir ist durchaus bewusst, dass ich hier grade ein Familienbild zeichne, dass wir eigentlich überwunden glauben. Aber, wie gesagt, Grinzing ist nie wirklich aus den 60ern herausgekommen.

Aber diese Zeit hat es halt auch gegeben, und die Art, wie sie Grinzing bis heute prägt, ist ebenso echt, ebenso authentisch wie das Barock der Inneren Stadt, die Ringstraße und ihr Protz oder der Jugendstil rund um den Naschmarkt. Warum es also nicht nehmen, wie es ist? Wien ist groß genug, warum sollte es nicht ein paar Straßen für die Leute geben, denen das Herz bei Peter Alexander und Gunther Philipp aufgeht? Die die Zeiten von Attila Hörbiger und Paula Wessely vermissen und die lieber Hans Mosers „Reblaus“ als Rammstein lauschen? Für die das Nachkriegswunder die „Gute Zeit“ und die Gegenwart ein Moloch ist?

Nicht meine Welt. Aber ich wohne ja auch nicht in Grinzing.

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Meine Tipps:

Erinnerungstafeln zählen. Wien frönt ja ohnehin einer ausgeprägten Erinnerungskultur, aber Grinzing schlägt alles. An so ziemlich jedem Haus hängt mindestens eine Tafel, die an einen prominenten Besucher oder gar Bewohner erinnert.

Wer die entsprechenden Personen besuchen will, der Grinzinger Friedhof (Peter Alexander, Heimito von Doderer, Gustav Mahler, Alma Mahler-Werfel, Attila Hörbiger, Paula Wessely, Paul Kuppelwieser, Heinrich von Ferstel, Alexander Sacher-Masoch, Manon Gropius, Ida Krottendorf uv.m.) ist in Laufweite zum Ortszentrum und ist in seiner Prominentendichte nur vom Zentralfriedhof zu toppen.

Vom Ort aus lassen sich die Bellevuewiese und der Cobenzl mit ihren fantastischen Ausblicken über Wien gut erwandern.

 

© Hartmut Schulz 2023

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