Via Dolorosa

Über die Alser Straße zum Hernalser Kalvarienberg (9. Bezirk, 17. Bezirk)

Wer die Alser Straße vom Schottentor in Richtung Hernals fährt, denkt an Mancherlei, selten aber wohl an Jerusalem, die Passion und die Via Dolorosa – jenen topografisch fiktiven, nichtsdestotrotz zutiefst anrührenden Leidensweg Jesu Christi von der Gerichtsstätte über Golgatha bis zur Grabeskirche. Und doch will – vielmehr: wollte – diese zwar verkehrsreiche, im Großen und Ganzen aber eher unspektakuläre Wiener Vorstadtstraße ein Abbild just dieses heiligsten aller heiligen Wege sein. 

Ein hehrer Anspruch, aber durchaus verständlich aus der Sicht der Mächtigen des 17. Jahrhunderts, sprich: des Kaiserhauses und der mit ihm verbündeten Jesuiten, die sich dies hatten einfallen lassen. Gabe es doch einen Ort nahe der Residenzstadt, im heutige Hernals, just auf Länge der Via Dolorosa vom Stephansdom ab gerechnet, an dem Reich und Sancta Ecclesia einen gewaltigen Sieg für den Frieden im Land und das Seelenheil aller Menschen errungen hatten. Man hatte der Erzfeind, Satan und die Hure Babylon zertreten, den Erdkreis (zumindest den innerösterreichischen Teil davon) erlöst und die Heerscharen des Teufels in den untersten Kreis der Hölle – beziehungsweise nach Ungarn und nach Siebenbürgen – vertrieben.

Wer jetzt sein Gehirn nach einer geeigneten Türkenschlacht oder Wallensteinsieg nahe Wien durchforstet – es steht nicht dafür. Mit der steten Bedrohung durch das Osmanische Reich kamen die für jede Zeit infrage kommenden Ferdinande II & III mehr schlecht als recht zu Rande. Und auch einen „Sieg von Hernals“ gegen die böhmischen Stände gab es nicht.

Wer hier mit allen Höllenhunden gehetzt worden war, waren die Mitglieder eines kleinen Adelsgeschlechts, die Jörger von Tollet. Ihr Vergehen: Sie waren evangelisch und auf ihrer Hernalser Besitzung feierten die Luther’schen aus der Wienerstadt, die ihren Glauben ja innerhalb der Stadtmauern nicht leben durften, ihre Gottesdienste.    

Ein unerhörter Zustand, zumindest aus Sicht der Gegenreformation, der sich das Herrscherhaus in all seiner bigotten Frömmelei zutiefst verpflichtet fühlten. Und so wurden die Jörger so lange drangsaliert, bis sie sich nicht mehr zu helfen wussten und den Aufstand versuchten – mit dem angesichts der Machtverhältnisse erwartbaren Ende. Sie wurden geschlagen,  eingekerkert, hingerichtet, im besten Falle des Landes vertrieben.

Das Hernalser Schloss verloren sie 1625, es ging in den Besitz des Domkapitels von St. Stephan über.

Was nun folgte, war ein psychologisches Meisterstück.

Zwar waren die Jörger außer Landes, aber die Mehrzahl der Hernalser Einwohner waren immer noch Protestanten. Um zum einen wieder mehr Katholiken in den Ort zu bekommen, zum anderen aber auch, um den bilderstürmerisch veranlagten Evangelen so recht vor Augen zu führen, wie freudig und bunt es sich im wahren Glauben leben lässt, überzeugte der Jesuiten-Pater Carolus Mussart das Domkapitel, von St. Stephan bis nach Hernals einen Prozessionsweg mit sieben der Leidensstationen Jesu Christi anzulegen – eben die Via Dolorosa. Zwischen 1639 und (mit Unterbrechungen) 1759 fand auf ihr jeweils am Freitag vor Palmsonntag eine Prozession statt, auch wenn das ursprüngliche Ziel, eine Nachbildung des heiligen Grabes neben der Hernalser Kirche, im Rahmen der osmanischen Belagerung von 1683 zerstört worden war. An seiner Stelle trat ab 1709 der heute noch erhaltene Kalvarienberg.

Auch die Leidensstationen entlang der Alser Straße sind untergegangen. Lediglich die Figurengruppe „Christus vor Annas“ führt an der Außenmauer der Alser Kirche zur Schlösselgasse hin ein wenig beachtetes Dasein.

Der Passionsweg ist also weitestgehend aus dem Stadtbild verschwunden. Und dennoch ist etwas von seinem Geist auf uns gekommen und prägt das Bild der Straße bis heute.

Die damalige  Prozession sammelte sich auf der Glacis vor dem Schottentor – also in etwa auf Höhe der heutigen Votivkirche. Ich tue es ihr bei strahlendem Frühlingssonnenschein gleich und beginne meinen Weg zum Kalvarienberg ebenfalls dort.  Und schon nach wenigen hundert Metern eröffnet die Shoa-Gedenkstätte vor der Nationalbank einen neuzeitlichen Blick auf die Via Dolorosa. Zeile um Zeile reihen sich rund 65.000 Namen auf den übermannshohen Tafeln der Anlage. 65.000 Opfer des Naziterrors, vertrieben, deportiert, erschossen, vergast und in Zwangsarbeit. 65.000 individuelle Schmerzenswege.

Und auch der im Westen angrenzende Campus der Universität Wien war über Jahrhunderte Ort allerpersönlichster Schicksale, und das schon lange bevor hier in etwa zeitgleich mit den Anlagen der Via Dolorosa die Spitalssäle des Alten AKH entstanden. Bereits seit dem 13. Jahrhundert stand hier das Pestlazarett „Johannes in der Siechenals“. Wer hierher kam, der hatte zumeist nur noch Tage, wenn nicht Stunden zu leben.

Ausgehend von dieser Keimzelle hat sich heute die ganze Gegend rund um die Alser Straße bis hin zum Gürtel zu einem Amalgam aus Arztpraxen, Privatkliniken und Krankenhäusern entwickelt, überragt von den wuchtigen Türmen des Neuen AKH. Sicher, unsere Chancen, den Bezirk auch wieder lebend und geheilt zu verlassen sind um ein Vielfaches höher als die unserer mittelalterlichen oder neuzeitlichen Vorfahren. Aber Schilder wie „zur Kinderonkologie“ oder „Hospiz“ verheißen auch uns Heutigen nichts Gutes.

Ihren religiösen Bezug nimmt die heutige Via Dolorosa erst hinter dem Gürtel wieder auf, wenn die Alser Straße in die Hernalser Hauptstraße übergegangen ist. Von hier ist es nicht weit zur Kalvarienberg-Kirche St. Bartholomäus und dem sie umschließenden Kalvarienberg.

Freilich, man muss sich auskennen, die Anlage ist nur zwischen Aschermittwoch und Ostersonntag tagsüber geöffnet. Wer zur rechten Zeit vor Ort ist, den erwarten 14 großformatige Relieftafeln in leuchtend bunter Bemalung. Hinauf geht es mit den Jesu zugeordneten sieben Todsünden, hinab dann mit 7 Tugenden, um die sich die Gottesmutter kümmern muss. Am Scheitelpunkt dazwischen die Kreuzigungsgruppe.

Meisterwerke sollte man hier keine erwarten. Aber es sind durchaus gelungene Stücke religiöser Volkskunst, die es zu betrachten gilt. Und eines sei gesagt: Es gibt auf ihnen viel zu entdecken, von den großen, erhabenen Protagonisten der Ewigkeit über die kleinen putzigen Engelein bis hinunter zu Löwe, Lamm und Hund. 

Nicht zuletzt aufgrund des gewählten Formats erinnern diese leicht überinszenierten Bilder an  Instagram. Und das nicht von ungefähr. Gott in der geschauten Welt zu begreifen, nicht im gedruckten Wort, war schließlich die Methode der Gegenreformation. Eine erfolgreiche zudem. Das Hernals einstmals protestantisch war – wer weiß das heute schon noch.

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Meine Tipps:

- Informationen zum Kalvarienberg sowie Adresse, Öffnungszeiten etc. sind hier zu finden: https://www.kalvarienbergkirche.at/kalvarienberg.htm

-Wer einmal eines der kleineren Wiener Museen besuchen möchte, im Gebäude der Nationalbank befindet sich das Geldmuseum: https://www.oenb.at/Ueber-Uns/Geldmuseum.html

- Eine weitere erhaltene Figur der Via Dolorosa befindet sich im Bezirkmuseum Hernals: https://www.bezirksmuseum.at/de/bezirksmuseum_17/bezirksmuseum/

 

 

© Hartmut Schulz 2023

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