Meidling entdecken

Wege durch unbekanntes Terrain (12. Bezirk Meidling)

Ich habe zwei grundsätzlich unterschiedliche Art und Weisen, an einen Stadtspaziergang heranzugehen. Entweder gibt es etwas, das mich interessiert: ein Gebäude, eine Landschaft, gerne historisch und somit in Wien zumeist barock. Oder ich entdecke auf dem großen Stadtplan in meinem Gästezimmer einen weißen Fleck und vertraue dann darauf, dass es dort schon Interessantes zu sehen geben wird. Wien hat mich in dieser Beziehung noch nie enttäuscht.

Meidling – um präzise zu sein, Unter- und Obermeidling (in etwa der Bereich zwischen Meidlinger Hauptstraße und Schloss Schönbrunn, zwischen Wienfluss und Bahntrasse) – gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Internet und die einschlägigen Stadtführer versprechen hier wenig Sehenswertes, aber das Wetter ist herbstlich schön, und bei strahlendem Sonnenschein kann eigentlich nichts schiefgehen. Und von einer Ausnahme zu Beginn – und dann noch einmal zum Ende der Tour kreuz und quer durch das Grätzl – abgesehen, sollte ich meinen Optimismus bestätigt finden.

Die Ausnahme ist die Meidlinger Hauptstraße, an der ich aus der U-Bahn steige. Sie mag als Einkaufsstraße funktionieren, ästhetisch ist sie eine Bankrotterklärung, schäbige 60er- bis 80er-Jahre-Gebäude, im Norden, am Wienfluss, gekrönt von einem der größten architektonischen Sündenfälle Wiens: dem U4-Center. Es ist eines dieser Bauwerke, bei denen man sich wünscht, dass es unter Dantes neuntem Höllenkreis einen zehnten für Architekten und Städteplaner gibt.

Dahinter aber liegt ein Stadtteil, der durchaus Reizvolles zu bieten hat. Meidling war immer die „arme Seite“ des Schönbrunner Schlosses, wer es sich leisten konnte, wohnte im mondänen Hietzing. Hier waren eher die Dienstboten und das Personal zu Hause. Trotzdem, im unteren Bereich, an der Schönbrunner Straße, gibt es die ein oder andere prächtige Hausfassade. Auch wenn ambitioniert Projekte wie die Kunsthalle Meidling, an deren trauriger Fassade ich vorbeikomme, schon bessere Tage gesehen haben, der Abschnitt zwischen Theresienbad und Meidlinger Tor ist lebens- und liebenswert.

Interessant wird es aber vor allem, wenn man südwärts die Straßen hinaufgeht, parallel dem Schlosspark, vorbei am Springer-Schlössl bis hinauf zur Hohenbergstraße. Hier steht mit der Gatterhölzl-Kirche das sowohl historisch wie architektonisch ansprechendste Bauwerk dieses Rundgangs.

Hier oben, auf dem Grünen Berg, lagen seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Tivoli und dem Meidlinger Prater große Vergnügungsstätten, auf denen sich Unterhaltungsgrößen wie Ferdinand Raimund, Joseph Rezniczek und die Strauss-Dynasten die Klinke in die Hand gaben. Nach und nach wurde die Besiedlung dichter, und zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurde beschlossen, quasi als „Gegengewicht“ eine Kirche zu errichten. Realisiert wurde dies aber erst während des Ersten Weltkriegs, als der Großteil der Amüsierbetriebe bereits einem großen Kranken- und Versehrtenlager hatten weichen müssen. Dessen Notkirche blieb – wie so viele Provisorien Wiens – bis in die Nachkriegszeit des Zweiten Kfrieges stehen, erst zwischen 1955 und 1959 wurde die heutige dauerhafte Kirche gebaut.

Deren Rundbau nimmt den alten Kuppelbau der Notkirche auf, erinnert aber in seinem Äußeren auch an eine orthodoxe Kirche oder - ehrlich gesagt – an eine Moschee. Im Inneren freilich nicht, allein das Gewölbe mit seinen 120 Heiligenfiguren wäre im Islam selbstverständlich undenkbar. Was das Gotteshaus, zumindest für mich, besonders macht, ist, dass sie trotz ihrer unleugbaren Modernität Geborgenheit und Wärme ausstrahlt – ein wirkliches kleiner Meisterwerk, hier, hoch über dem Tal.

In direkter Nähe liegt die sogenannte Moldauer Kapelle, ein altes Wegekirchlein mit einem Kreuz (bzw. dessen Kopie, das Original wurde im 18. JH geklaut), das der rumänische Fürst Serban II. Cantacuzino während der Belagerung von 1683 hatte als Feldkreuz errichten lassen. Wohlbemerkt, der gottesfürchtige Herr kämpfte auf osmanischer Seite!

Nicht weit von hier geht es, von zwei Sphingen argwöhnisch beäugt, über die Tivolibrücke in den Schönbrunner Schlosspark. Ich biege vorher hinter einem Würstelstand, der den in dieser royalen Umgebung ebenso passenden wie vielversprechenden Namen „Zum Imperator“ trägt, links ab. Entlang einer Lärmschutzwand geht es bis zur großen Verkehrsschneise Edelsinnstraße. Von gegenüber grüßt Boehringer Ingelheim. Land’s End, also.

Bleibt nur, mich weiter linker Hand zu halten, vorbei am Gelände der Heckenast-Burian-Kaserne. Besser gesagt: der Meidlinger Kaserne. Denn unter seinem offiziellen Namen kennt kaum jemand in Wien das mächtige Gebäude, das unübersehbar über den Brücken und Gleisen der Bahnanlagen thront. Das Hauptgebäude sieht aus, wie man sich eine große Militärverwaltung aus der k.u.k.-Zeit eben vorstellt. Immerhin, die beiden Rossebändiger-Skulpturen vor dem Haupteingang sind imposant. 

Noch einmal quer durch die Straßen des Stadtteils, vorbei an zwei entzückenden steinernen Seehunden, und mit entschlossenem Schritt über die Meidlinger Hauptstraße, geht es hinter einer Einkaufspassage wieder hinunter in die U-Bahn. Was bleibt: Das befriedigende Gefühl, dass sich auch diese Stadtwanderung wieder gelohnt hat!

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Meine Tipps:

- Das Gebäude ist scheußlich, der Club legendär: Im 1980 eröffneten Nachtclub„U4“ ging Falco aus und ein und noch heute trifft man dort die Stars aus aller Welt (https://www.u4.at/).

- Wie gesagt, die Gatterhölzl-Kirche ist einen Besuch wert. Adresse ist Hohenbergstraße 42, alle wesentlichen Informationen finden sich im Netz unter https://www.gatterhölzl.at

- Für alle, die sich für zeitgenössische Kunst interessieren: In der Aichholzgasse 51-53 liegt das Kunstquartier Meidling (http://www.kunstquartier.wien), ein Atelier-Komplex für mehr als 60 Künstler*Innen der unterschiedlichsten Genres. 

 

© Hartmut Schulz 2023

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