Planet Favoriten

Quer durch Wiens buntesten Stadtteil

Zumindest die Anfahrt mit der U-Bahn bestätigt alle Klischees. Das vorherrschende Kleidungsstück ist der Trainingsanzug, und statt des innerstädtischen „Servus“ heißt es „Wie geht, Bruda?“. Spätestens, als ich am Reumannplatz aus der U1 steige, ist denn auch klar: Das hier ist ein ganz eigenes Wien.

Im strahlenden Sonnenschein dieses Sonntagnachmittags ist die großzügige Freifläche zwischen Amalienbad und Kult-Eissalon Tichy dicht bevölkert. Cliquen von Jugendlichen sitzen neben älteren Ehepaaren, zwei graubärtige Männer spielen Schach, andere haben Wasserpfeife und Tee dabei. Dazwischen rennen Kleinkinder wild durcheinander, die verzweifelt gestikulierenden Mütter hinterher. Das alles unter Beschallung aus gleich mehreren Ghettoblastern, die den Platz mit ihren simultanen  Darbietungen von Deutschrap, orientalischer Musik und Helene Fischer in eine akustische Vorhölle verwandeln.

Aber keinen störts, alle sind fröhlich und amüsieren sich. Leben und leben lassen – das ist die Devise.

Was im Übrigen für das ganze Grätzl, präziser, den Bezirksteil Favoriten gilt, der das Ziel meines heutigen Stadtspaziergangs ist. In keinem Stadtteil Wiens leben mehr Kulturen nebeneinander, fast die Hälfte der Bevölkerung ist ausländischer Herkunft, zusammen mit den Zugewanderten der 2. und 3. Generation stammt die Mehrheit der Bevölkerung aus dem südosteuropäischen und nahöstlichen Raum. 

Dass Favoriten in den „feineren“ Stadtteilen deshalb häufig mit einer Mischung aus Herablassung und kulturellen Vorbehalten betrachtet wird, ist – ich kann es gar nicht deutlich genug sagen – ungerecht. „Bedrohlich“ ist hier und heute rein gar nichts, und die omnipräsente gute Laune ist ansteckend!

Eines gibt es in Favoriten allerdings tatsächlich zu beklagen: Touristisch ist das Grätzel eine einzige Fehlanzeige.

Gut, was soll man auch erwarten von einem Stadtteil, der sich sogar seinen Namen ausborgen muss. Die Favorita, von der er sich herleitet, war die kaiserliche Residenz an der Stelle des heutigen Theresianum im nahen Wieden. Das aus dem kleinen Weiler am südlichen Ende des ausgedehnten Parks, dem man aus Bequemlichkeit gar keinen eigenen Namen gab, einmal Wiens größter Bezirk werden sollte, konnte damals niemand ahnen.

Die größte Attraktion des heutigen Favoriten ist tatsächlich der eingangs genannte Eissalon Tichy am Reumannplatz. Die Reihe der Wartenden vor der Straßentheke zieht sich über den halben Platz, und es sind durchaus nicht nur Anwohner. Die legendären Eismarillenknödel ziehen Kunden aus der ganzen Stadt an. Ob das Eis die Warterei wert ist, ist Geschmackssache, aber das Traditionsunternehmen ist eine einzigartige Favoritener (oder heißt es Favoriter?) Erfolgsgeschichte und hier Schlangestehen ist Kult. 

Mit oder ohne Eistüte in der Hand geht es die Neusetzgasse hinunter zur Kirche Hl. Antonius von Padua. Der monumentale Bau vom Beginn des 20. Jahrhunderts ist nicht zu verfehlen, er liegt in direkter Sichtachse zum Platz. So beeindruckend das Äußere, so kahl ist der Innenraum – einen Grund, zu verweilen, gibt es nicht.

Während ich im weiten Bogen über die Laxenburger Straße und durch den Arthaberpark in Richtung Evangelischer Friedhof Matzleinsdorf laufe, fällt mir eines auf: Im Straßenbild dominieren südosteuropäische und nahöstliche Geschäfte und Gastronomiebetriebe. Aber baulich oder kulturell? Fehlanzeige. Es gibt weder eine Moschee, die zur Besichtigung einlädt, noch eine Kunstgalerie mit serbischer Kunst oder auch nur einen wirklich multikulturellen Konzertsaal. Schade eigentlich, denn welcher Stadtteil in Wien wäre berufener, das Miteinander der Kulturen sichtbarer zu repräsentieren als Favoriten? (Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Mein Wunsch zu mehr Interesse aneinander gilt ALLEN Seiten. Auch der Magistrat könnte hier Zeichen setzen.) 

So aber sind es ein paar brav katholische Kirchen, die ich auf dem Weg „mitnehme“: die Kirche der Dreimal Wunderbaren Muttergottes in der Buchengasse und die Kirche Königin des Friedens in der Quellenstraße. Instagram-Schönheiten sind beide nicht.

Mehr Talent zur Sehenswürdigkeit hätte der Evangelische Friedhof. Das kleine Kirchlein stammt immerhin von Theophil Hansen, dem Architekten des Parlaments und des Musikvereins und für Friedhofs-Fans gibt es hier unter anderem das Grab von Friedrich von Hebbel zu besuchen. „Kleine“ Einschränkung – und das bitte ich ironisch zu verstehen – die Lage im Zwickel zwischen der ebenso verkehrsreichen wie reizarmen Triester Straße und der stark befahrenen Südbahn-Hochtrasse erstickt jede Atmosphäre im Keim.

Besser macht es da der nahegelegene Waldmüllerpark, dessen hohe Bäume die Anlage gegen den Straßen- und Bahnlärm etwas abschirmen. Grabnostalgiker kommen auch hier auf ihre Kosten, im nördlichen Teil gibt es einen Gräberhain mit Denkmälern des aufgelassenen Matzleinsdorfer Friedhofs.

Damit ist der nördlichste Punkt des Spaziergangs erreicht. Über die Gudrunstraße geht es zur letzten Sehenswürdigkeit, der Johanneskirche am Keplerplatz. Der weißleuchtende Neorenaissance-Bau aus dem 19. Jahrhundert ist nicht nur die älteste, sondern auch die architektonisch gelungenste Kirche im eigentlichen Favoriten. 

Ein kurzes Innehalten ist sie allemal wert, ehe ich mich – via Columbusplatz, der den Seefahrer mit einem ästhetisch zweifelhaften Ein an einer Einkaufsfassade feiert – in Richtung des nahen Hauptbahnhofs aufmache.

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Meine Tipps:

 - Auch wenn im Beitrag nicht genannt: der Victor-Adler-Markt nahe dem Reumannplatz bietet vor allem für die Fans der türkischen und levantinischen Küche alles, was das Herz begehrt. Öffnungszeiten und Infos unter https://www.wien.gv.at/freizeit/einkaufen/maerkte/lebensmittel/viktor-adler-markt.html

- Ob man (sein) Eis nun mag oder nicht: zumindest einmal muss jeder Wiener beim Tichy gewesen sein. Einen Vorgeschmack gibt es auf https://www.tichy-eissalon.at/

- Wer ein Juwel des Jugendstils bzw. des Art Decos eingehend betrachten will, muss die Badehose einpacken: Die Innenausstattung des Amalienbades ist ein Paradestück dieser Design-Richtungen. Wie man hineinkommt unter https://www.stadt-wien.at/freizeit/sport/schwimmbaeder/amalienbad.html

 

© Hartmut Schulz 2023

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