Die Gesichter von St. Stephan

Intime Momente eunes monumentalen Bauwerks (1. Bezirk Innere Stadt)

Zugegeben: Auch nach vielen Jahren in Wien fremdele ich noch mit dem anderthalbtürmigen Gesellen im Herzen der Stadt, dem Stephansdom.

Ich bin Kölner, „mein“ Dom steht 850 km weiter im Nordwesten, am Ufer des Rheins. Das ist der „richtige Dom“, der eindrucksvollste überhaupt. Ganz objektiv, selbstredend, das müssen auch Leute aus anderen Städten mit anderen Kathedralen zugeben. Da geht es mir, wie es Katzenbesitzern geht – die eigene ist immer die schönste. (Ich weiß, wovon ich rede – ich habe drei Feliden, eine bezaubernder als die andere, und alle zusammen natürlich die besten Tiere Wiens.) Oder Eltern mit ihren Kindern.

Also, mein Herzensdom steht in Köln, das wird sich nicht ändern. Aber mein Abstraktionsvermögen reicht durchaus aus, um mir vorzustellen, dass viele Wienern St. Stephan ähnlich sentimental gegenüberstehen. My Heart is, where my Dom is.

Und ganz Unrecht haben sie ja nun wirklich nicht. Die Dom- und Metropolitankirche zu St. Stephan und allen Heiligen, so die korrekte Anrede, spiegelt in so viele Facetten die Geschichte dieser Stadt und dieses Landes, dass man schon emotional blind sein muss, um von ihm nicht berührt zu werden. Auch ich habe inzwischen meine Lieblingsplätze in Dom. Nicht unbedingt immer die „Highlights“, so schön sie auch sind, sondern teils versteckte, wenig beachtete Ecken und Winkel. Einige davon will ich in diesem Stadtspaziergang vorstellen. 

Als erstes wären da die Marienbilder. In Bausch und Bogen, in Stein, Holz und Öl. In Groß und Klein. Achten Sie einmal darauf, wie präsent die Gottesmutter in der Kirche ist. Ich habe nicht nachgezählt, gefühlt, würde ich sagen, ist das „Abbildungsverhältnis“ zwischen ihr und ihrem Sohn in etwas 2:1 zu Gunsten der Himmelkönigin.

Gehen Sie durch St. Stephan und fokussieren Sie sich auf die gotischen Bildnisse. Wenn Sie Barock mögen, gehen Sie in die nahe Annakirche, die Schätze des Domes sind älteren Datums.

Ich bin mit den sogenannten Rheinischen Madonnen aufgewachsen, einem speziellen Bildtyp des Mittelalters. Maria, lächelnd, mit ihrem kleinen Sohn auf Arm oder Schoß. Christus schon ganz der Welten-Erlöser, niedlich, aber Großem, zu-Großem zugewendet. Seine Mutter hingegen schaut den Betrachter an, ist nur bei ihm oder ihr. In diesen Marien-Abbildungen manifestiert sich die ganze emotionale Kraft des Glaubens, in ihnen wird das Konzept der Liebe, der „Caritas“ intuitiv greifbar. Wer wissen will, was ich meine, suche im Internet nach dem Gemälde „Madonna im Rosenhag“ von Stefan Lochner.

Oder besuche die Dienstbotenmadonna im südlichen Seitenschiff des Stephansdoms. Sie ist natürlich Wiener Provenienz, aber: Das selbe geheimnisvolle Lächeln liegt auf ihren Lippen, und seit gut sieben Jahrhunderten hört sie  jedem zu, der und die sich an sie wendet. Im Laufe der Jahre werden dies Zehntausende gewesen sein, dieses Meisterwerk gotischer Bildhauerkunst gehört zu den populärsten Figuren der Kirche.

Aber auch die anderen Marien haben jeweils ihren ganz eigenen Reiz. Inmitten des Kerzenmeeres die hochverehrte Ikone Mária Pócs, die zauberhaft-kindliche Maria der Anna Selbdritt auf einem Chorpfeiler, der Frauenaltar mit dem Gnadenbild „Maria in der Sonne“, und, und, und.

Schlussendlich der grandiose Marienalter – besser bekannt als „Wiener Neustädter Altar“ - im nördlichen Chor, der einzige weitgehend vollständige gotische Flügelaltar nicht nur in St. Stephan, sondern in ganz Wien. Wer mit offenen Augen durch den Dom geht, wird ganz sicher auch seine persönliche Lieblings-Madonna finden.

Der Nordchor ist aber auch der geeignete Ort, um die Perspektive zu wechseln, weg aus den himmlischen Sphären, hinab zu den Menschen.

Der Stephansdom ist nicht nur Ort der Anbetung, sondern war lange auch Begräbnisort. Bekannt sind die Katakomben, wirklich aufregend sind die unterirdischen Räume aber kaum, der historische Wert überwiegt bei Weitem den ästhetischen. Deutlich interessanter ist der Weg durch den Dom selbst. Und damit meine ich nicht das zweifellos herausragende Grabmal Kaiser Friedrichs III oder die Tumba des Dom-Gründers Rudolf IV und seiner Gemahlin Katharina von Luxemburg. Sehenswert, sicherlich, aber irgendwie ähneln sich die Denkmäler der Mächtigen weltweit doch sehr.

Wer den Menschen begegnen will, die in Ihrer Zeit an St. Stephan gewirkt haben, oder die den Dom mit ihren Stiftungen geprägt haben, sollte sein Augenmerk auf die vielen Kenotaphe an den Wänden richten. Normalerweise werden sie kaum zur Kenntnis genommen, aber die steinernen Gesichter all dieser Prälaten und Gelehrten, Rittern und adligen Fräulein öffnen faszinierende Blicke auf die Menschen vorausgegangener Epochen. Die Skulpturen sind nicht staatstragende, idealisierte Abbilder von Herrschaftsideen, in ihnen wird die Geschichte Wiens persönlich und menschlich.

An der Außenseite des Gebäudes setze sich diese Galerie fort, der Dom ist rundum geradezu gepflastert mit ins Mauerwerk eingelassenen Grabsteinen. Sie stammen vom ehemaligen Kirchhof, der zwischen der Mitte des 13. Jahrhunderts und dem Jahr 1732 die Toten der anliegenden Sprengel aufnahm. Bis 1783 fanden noch Bestattungen in den Katakomben statt, danach wurde auf dem neu angelegten Friedhof St. Marx bestattet – was erklärt, warum Mozarts sterbliche Überreste dort und nicht in der Domkirche verlorengingen.

Ein Weg um den Bau herum lohnt jedenfalls, der letzte Abschnitt dieses Stadtspaziergangs soll indes dem Blick auf einen einzigen Mann vorbehalten sein, ohne den Wiens Wahrzeichen wohl nicht – oder nicht so – bestünde, auf Rudolf IV, den „Stifter“. 

Diesem charismatischen Realpolitiker verdankt der Dom alles, Wien das meiste und Österreich vieles. Ohne ihn kein Kapitel an St. Stephan und kein Bistum, ohne ihn keine Wiener Universität und keine frühe wirtschaftliche Blüte, ohne ihn kein Privilegium Maius, kein Erzherzogtum Österreich.

Wie bereits gesagt, der Dom ist seine Grablege. Seine Gebeine sollte man in der Krypta in Frieden ruhen lassen, sein Scheingrab im Kirchraum ist leer. Wer etwas vom Menschen Rudolf erfahren will, muss über den Platz ins Dommuseum. 

Hier sind in einem eigenen Raum die Funde aus dem direkten Umfeld des Herrschers ausgestellt: Manuskripte aus den Klöstern Europas, syrische Glasflaschen und ein kleiner beinerner Kasten aus Norditalien zeugen von seinen weitgespannten Interessen. Das Andreaskreuz von seiner Frömmigkeit und das brokatene Leichentuch von seiner Liebe zum Luxus. 

Ganz am Ende des Raumes findet sich sein Portrait. Es ist das erste individuell gestaltete Herrscherbild der europäischen Neuzeit – und ein beeindruckendes zudem. Wer den Stephansdom kennen lernen will, sollte hier anfangen.   

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Meine Tipps:

- Der Dom kann an allen Tagen (Sonntags ab dem Nachmittag) besichtigt werden. Allerdings sind das Hauptschiff (mit Kanzel, Friedrichsgrab und Dienstbotenmadonna) außerhalb der Gottesdienstzeiten eintrittspflichtig. Ebenso die Aufgänge zu den beiden Türmen und die Führung durch die Krypta. Da kommt einiges zusammen. Informationen unter https://www.stephanskirche.at/

- Wer den Dom wie im Mittelalter inmitten von  Marktständen und feiernden Menschen erleben will, sollte die Tage zwischen dem 09. und 19. September 2021 vormerken. Dann findet der Stefflkirtag mit Kunsthandwerk, Kulinarik und Musik statt: https://www.stefflkirtag.wien 

- Das Dommuseum ist klein, aber oho: Neben ausgewählter religiöser Kunst, vornehmlich aus dem Mittelalter, überzeugt das Haus mit wechselnden zeitgenössischen Ausstellungen mit Tiefgang (https://www.dommuseum.at). 

 

© Hartmut Schulz 2023

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